Das „Briedeler Kaiserreich“

Wilhelm Diederich

 

Es war eine Epoche größter Erregung in der „Alten Welt“. In Preußen hasste man den König und auch der übrigen Fürsten gedachte man mit wenig Wohlwollen. Genauer gesagt es war die Zeit revolutionärer Umtriebe, eine Zeit, in der freiheitlich – liberales Gedankengut sowie frühkommunistischer Fanatismus die Menschen gleichermaßen auf die Barrikaden trieb, um der feudalen Fürstenära den Garaus zu machen.

Man schrieb das Jahr 1848. In den Städten sammelten sich die Menschen unter dem schwarz – rot – goldenen Banner der Freiheit, und in geradezu aufmüpfiger Weise trotzten ihre geistigen Führer dem Adel eine Reihe von Zugeständnissen ab. Ein Wort war in aller Munde, ein Wort, dessen magische Anziehungskraft die Menschen erschaudern ließ und in eine geheimnisvolle Erregung versetzte, von der auch die Bürger in der Provinz, ja auch in Briedel ergriffen wurden. Überall sprach man von Demokratie.
Aber wie schon so oft in der Geschichte erging sich auch hier das kaum glaubhafte, jede Logik zerstörende Phänomen, das wohl am besten als Ironie des Schicksals zu bezeichnen ist.. Während man überall von der Republik sprach, wurde Briedel zum „Kaiserreich“.

An dieser Stelle nun mag der Betrachter an eine hinterhältige Untergrabung des demokratischen Gedanken seitens der Aristokratie denken. Dem war aber nicht so. Nicht der Adel probte die glorreiche Erhebung in schwindelerregender Höhen, sondern ein Mann aus der Mitte der Bewohner unseres schönen Weindorfes war es, der in napoleonischer Kühnheit den Gipfel des irdischen Ruhmes erklomm.

Die Gerüchte und Halbwahrheiten, die unausgesprochenen Hoffnungen der Demokraten, die heimlichen Befürchtungen der Royalisten führten zu einer Atmosphäre, die durch allgemeine Ratlosigkeit gekennzeichnet war. Als sich die Nachricht von der Flucht des preußischen Königs Genaueres oder Bestätigendes konnte vorerst nicht in Erfahrung gebracht werden – verhärtete und gar nicht mehr aus den Köpfen der Briedeler Bürger zu verdrängen war,, entschloss sich die bereits angesprochene Persönlichkeit in selbstloser Hingabe zur Rettung der Monarchie. Da der Zusammenbruch der bestehenden Ordnung, die nur durch königliche Führung bestärkt überdauern konnte, unweigerlich zu Mord und Todschlag geführt hätte, da die Exzesse revolutionärer Umtriebe selbst Sodom und Gomorra im Lichte eines verträumten Puritanerstädtchen hätten erscheinen lassen, wurde kurz entschlossen nach dem Motto: „Der König ist tot,  es lebe der Kaiser“, das „Briedeler Kaiserreich“ deklarieret. Gleichzeitig mit der Gründung des neuen Staates wurde „Johann I“ kraft eigener Autorität zum ersten Potentaten des Reiches erkoren, der als „Kaiser Hennes“ in die Briedeler Geschichte einging.

Um dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein der Briedeler Bürgerschaft und der hoheitlichen Präsenz nachdrücklich  Ausdruck zu verleihen, wurde zum Trotz jedes geistig körperlich spürbaren Widerstandes in aller Eile eine „Leibgarde“ zur freien Verfügung seiner Exzellenz aufgestellt.
Die wohl mehr schlag – als schiessfeste Truppe rekrutierte sich aus einem Grenadier mit seiner alten Flinte, dessen Patriotismus durch das in Aussicht stellen einer materiellen Abfindung erheblich gesteigert, man kann sagen, förmlich geweckt wurde.

 Da es der „Briedeler Armee“ wegen der Gefahr einer allzu großer Zersplitterung nicht möglich war, an allen brisanten Brennpunkten des aufgewühlten Dorflebens für Ruhe und Ordnung zu sorgen, wurde ihr Einsatz auf die wohl wichtigste und edelste Art soldatischen Tuns beschränkt, nämlich zum Schutze des Kaisers. So sah man  die  Garde während den noch verbliebenen Stunden des Tages und auch die ganze Nacht hindurch bis in den nächsten Morgen hinein vor dem Palast auf-  und abgehen.

Der unbeschreibliche, in der Geschichte der Menschheit einmalige Aufstieg eines ganzen Dorfes zum Kaiserreich und der geniale Werdegang eines einfachen Bürgers wurde nur noch durch seinen Niedergang übertroffen. Weder Aufruhr und Revolte noch Plünderung und Brandschatzung bereiteten dem „Briedeler Reich“ nach fast 24 stündigen Bestehen ein Ende. Vielmehr war es die selbstlose Tat eines erhabenen Menschen, de, vom allzu raschen Griff nach den Sternen verstört, nach einer  Nacht kühlen Nachdenkens in aller Stille den Verzicht auf die Krone erklärte. Noch am gleichen Morgen wurde die Truppe ausgemustert und entlassen. Da sich im Dorf kein Kronprinz finden lies, endete auch die erste Briedeler Dynastie an jenem Tag. Lediglich bei der Auszahlung des Soldes für den entlassenen Soldaten kam es zu einigen Auseinandersetzungen. Da sich nach der Aufhebung der Monarchie niemand mehr für solche Dinge verantwortlich fühlte, konnte nur die Drohung des geprellten Grenadiers, die Ereignisse um den „Kaiser von Briedel“ über die Grenzen des ehemaligen Reiches Publik werden zu lassen, seine Majestät a. D. dazu bewegen den versprochenen Sack Mehl herauszugeben.
Einen Cäsaren hat es in Briedel seither nicht mehr gegeben. Aber für immer wollten die Briedeler doch nicht auf fürstliche Gnaden verzichten. Und so wählen sie schon seit geraumer Zeit für jedes Jahr eine Königin, die nicht der Menschheit Eitelkeit, sondern dem Ruhme des Briedeler Weines dienen soll.

 

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